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Allgemeine Fragestellungen und Hypothesen

Die Verlaufsformen und Themenfelder der Kulturethologie hat Max Liedtke folgende Fragestellungen und Hypothesen weiter präzisiert:

I. Generelle (durchgängig auffindbar) Verlaufsformen

darwinfinken selektion variation

Variationen der Darwinfinken entstanden durch
Variation und Selektion

Fragestellung: Lässt sich bei kulturellen Phänomenen Variation und Selektion beobachten? Wenn ja, auf welche Eigenschaften der betreffenden Phänomene bezieht sich die Variation und Selektion?

Hypothese a: Der Variation und Selektion sind belegbar (z.B. Wandlung kultureller Phänomene; offensichtliche Verdrängung und Ablösung bestimmter materieller und ideeller kultureller Phänomene durch andere).

Hypothese b: Die auf "Variation und Selektion" beruhenden Verdrängungsprozesse lassen sich als Wettbewerb deuten.

Hypothese c: Der Begriff der Selektion bezieht sich auf die Durchsetzung durch den Nutzer, d.h. auf die Passung des Kulturphänomens auf die funktionalen, ökonomischen, sozialen, aesthetischen und sonstigen Ansprüche des Nutzers.

 

Fragestellung: Welche Einzelmerkmale eines gegebenen Merkmalkomplexes (z.B. eines Gewandes, eines Gerätes, eines Textes, eines Verhaltens) variieren in welchem Tempo?

Hypothese a: Akzidentelle ("zufällige") Merkmale variieren stärker und schneller als substantielle ("funktionswesentliche", "notwendige") Merkmale (z.B. relative Konstanz morphologischer Merkmale, stärkere Varianz der Farbe, des Umfeldes usw.).

Hypothese b: In Phasen nach "Schlüsselentdeckungen" sind nach Häufigkeit und Umfang besonders starke Variationen der Einzelmerkmale zu erwarten (z.B. nach Erfindung des Füllers relativ breites Versuchsspektrum zur Anwendung dieser Erfindung).

Hypothese c: Je geringer die Gebrauchsfrequenz, desto geringer die Varianz (vgl. Alltagskleidung - Hochzeitskleid).

 

Fragestellung: Bei welchen Merkmalen sind Luxurierungen (durch Material-, Dekor-, Form- und Funktionsveränderungen) zu beobachten?

Hypothese a: Luxurierungen sind mutmaßlich bei allen von Menschen genutzten Gegenständen zu erwarten (z.B. aus Gründen der Ästhetik, der Kommunikation, der Bequemlichkeit)

Hypothese b: Luxurierungen sind bei jeweils jüngeren Merkmalen häufiger zu beobachten als bei älteren Merkmalen.

 

Fragestellung: Welche Rolle spielen nicht unmittelbar wahrnehmbare Merkmale?

Hypothese: Unmittelbar nicht wahrnehmbare Merkmale eines kulturellen Phänomens werden in Gestalt, Ausprägung und Materialausführung vernachlässigt und gehen im Extremfall verloren.

 

Fragestellung: Welche typenspezifischen Folgen hat die Merkmalsdifferenzierung eines identischen Ausgangsobjektes?

Hypothese a: Durch Ausdifferenzierung eines identischen Ausgangsobjektes bzw. Merkmalskomplexes erfolgt eine Aufspaltung in Typen (biologisch: Bildung neuer Spezies, Abnahme des Verwandtschaftsgrades durch vertikalen und horizontalen Abstand im Merkmalsschema; mathematisch: Verfeinerung der Äquivalenzrelation, Verlassen von Äquivalenzklassen).

Hypothese b: Die Ausdifferenzierung kann Grade annehmen, daß die gemeinsame Herkunft der jeweiligen Endtypen nicht mehr unmittelbar erkennbar ist (Die Schnittmenge der gemeinsamen, die Struktur des jeweiligen kulturellen Phänomens bestimmenden Informationen nimmt mit dem vertikalen und horizontalen Abstand im Merkmalsschema ab).

 

Fragestellung: Läßt sich bei kulturellen Phänomenen im geschichtlichen Zeitablauf eine sukzessive Anreicherung mit vorteilhaften Merkmalen bzw. Konstruktionen feststellen?

Hypothese a: Auch die Entwicklung kultureller Phänomene beginnt in der Regel auf der Ebene geringer typen- bzw. merkmalsspezifischer Differenzierung.

Hypothese b: Das Verfahren der sukzessiven Anreicherung mit vorteilhaften Merkmalen führt dazu, daß in der Regel erst nach mehreren Schritten (durch Versuch-Irrtum-Lernen) - unter schließlicher Modifizierung des gesamten Objektes, mindestens der unmittelbar benachbarten Merkmale - eine Integration des neuen Merkmals erfolgt.

 

pfau luxurierung sexuelle selektion

Das Rad des Pfaus. Eine scheinbare
Luxurierung, die durch sexuelle
Selektion entsteht.

Fragestellung: Welche Veränderungen ergeben sich hinsichtlich des Verwendbarkeitsspektrums bei "luxurierten" kulturellen Phänomenen?

Hypothese: Durch Luxurierungen wird der Anwendungsbereich des betreffenden kulturellen Phänomens eingeschränkt (vgl. luxurierte Schreibfedern).

 

Fragestellung: Welche Folgen können sich bei Luxurierungen hinsichtlich der Funktionstüchtigkeit einstellen?

Hypothese: Bei akzidentellen (zufälligen) Merkmalen kann sich durch fortschreitende Luxurierung ein Verlust der ursprünglichen Funktion des betreffenden Merkmals einstellen.

 

Fragestellung: Sind Entwicklungstendenzen im Sinne einer Optimierung der kulturellen Phänomene beobachtbar?

Hypothese a: Die Entwicklung verläuft tendenziell in Richtung auf eine kostengünstige und durch den Bedürfniskanon des Menschen (vgl. Aspekte der Ästhetik, der Bequemlichkeit usw.) limitierte Effizienzsteigerung.

Hypothese b: Die Entwicklung verläuft unstetig.

 

Fragestellung: Funktionsverlust und Reliktbildung. Welche Rolle spielen funktionslos gewordene Merkmale?

Hypothese a: Funktionslos gewordene, aber unmittelbar wahrnehmbare Merkmale eines Objektes tendieren zu Rückbildungen und werden z.T. als bloße Relikte beibehalten.

Hypothese b: Bei längerfristig beibehaltenen "Relikten" (d.h. bei Merkmalen, die ihre primäre Funktion offenkundig verloren haben), liegen mutmaßlich verborgene bzw. sekundäre Funktionen vor.

 

entwicklung lampe

Die Entwicklung von Leuchtkörpern 1920-2020

Fragestellung: Welche Konsequenzen ergeben sich aus der sukzessiven Anreicherung mit vorteilhaften Merkmalen bzw. Konstruktionen?

Hypothese: Die sukzessive Anreicherung eines kulturellen Phänomens mit vorteilhaften Merkmalen bzw. Konstruktionen führt in der Regel zur Erweiterung und zur Optimierung der Anwendbarkeit des betreffenden Objektes.

 

II. Spezielle Verlaufsformen (mit geringerer Häufigkeit auftretende Verlaufsformen)

Fragestellung: Gibt es kulturelle Phänomene, in denen bislang getrennt verlaufene Traditionsströme zusammenfließen? Wenn ja, welche Konsequenzen haben solche Zusammenschlüsse?

Hypothese: Objekte, in denen bislang getrennt verlaufene Traditionslinien zusammengeführt (kombiniert) werden, stellen häufiger, als dies bei bloß linearer Detailverbesserung der Fall ist, einen Entwicklungssprung (Schlüsselentdeckungen, Phasensprung) dar (vgl. elektronischer Rechner; Stahlbeton; mit Pipette verbundener Füller; Lichtbild als Produkt u.a. zeichnerischer Fähigkeiten und elektrotechnischer Kenntnisse).

 

Fragestellung: Gibt es in der Entwicklung der betreffenden kulturellen Phänomene Formen des Rückgriffs auf ältere Entwicklungsstufen? Wenn ja, welche Auswirkungen hat ein solcher Rückgriff?

Hypothese: Durch solche Rückgriffe wird die Varianz der Typen vergrößert, die Kombinationsmöglichkeiten verschiedener Entwicklungsstränge erhöhen sich.

 

evolution fussballroboter

Eine ironische Gegenüberstellung von der
Entwicklung von Fussballrobotern mit der
Evolution des Menschen.

Fragestellung: Treten Funktionsveränderungen auf, die nicht nur einzelne Merkmale, sondern das gesamte Phänomen betreffen? Wenn ja, welche Auswirkungen hat eine solche Funktionsveränderung?

Hypothese: Diese Funktionsveränderungen entsprechen der polyfunktionalen Nutzung von Werkzeugen einfachen und mittleren Differenzierungsgrades.

 

III. Mutmaßliche kulturspezifische Verlaufsformen

1. Größeres Entwicklungstempo

Hypothese: Das Entwicklungstempo kultureller Phänomene ist in der Regel deutlich höher als das biologischer Objekte.

2. Höheres Maß an Kombinierbarkeit

Hypothese: Das Maß der Kombinierbarkeit unterschiedlicher und bislang weitgehend isoliert verlaufener Traditionsstränge kultureller Phänomene ist mutmaßlich höher als das Maß der Kombinierbarkeit biologischer Phänomene (vgl. "Artgrenzen")

3. Kulturspezifische Vorteilssicherung

Im kulturellen Bereich sind zusätzliche Vorteilssicherungen durch Patentierungen (vgl. Urheberrecht) und sonstige rechtliche Maßnahmen (z.B. Erbrecht) möglich.

4. Induzierung von Wertzuwachs

Der Wertzuwachs eines kulturellen Objektes oder die Exklusivität eines Verhaltens kann durch limitierte Auflagen (Sammlungsstücke: z.B. Münzen) oder durch Verbot der Nachahmung (z.B. historische musikalische Aufführungsrechte des Vatikans) erhöht werden.

5. Wandlungsverzögerung

Eine Wandlungsstopp, mindestens aber eine deutliche Verlangsamung des Wandlungstempos ist häufiger zu beobachten, wenn Kulturgüter oder eine Menschengruppe "aus ihrem ursprünglichen Heimatgebiet in fremde Räume" transferiert werden. Dieser Wandlungsstopp könnte mit der Sorge um den Verlust der Identität in der andersartigen Umgebung bzw. mit dem Wunsch nach Erhaltung eines übernommenen fremdländischen Kulturgutes erklärt werden.

6. Beibehaltung von Signalen auch bei Verlust des Signalträgers

Kulturelle Signale können in einer Weise ritualisiert werden, dass sie auch bei Verlust des ursprünglichen Signalträgers nicht verloren gehen, sondern auf andere Signalträger überspringen (z.B. funktionsbedingte Faltung der seitlichen Gewandteile der Diakone wird nach Verlust der Seitenteile des Gewandes zur funktionslosen, nur noch kommunikativen Zwecken dienenden Faltung des Rückenteiles).

7. Schwund von Innenstrukturen

Unter bestimmten Rahmenbedingungen, z.B. bei der Zusammenfügung von Teilfiguren zu einem größeren Gebilde, kann die durch die Einzelteile bestimmte Innenstruktur verloren gehen und nur noch die Außenform erhalten bleiben (Renaissancegiebel mit integrierten Miribotas zu "sinnentleert welligen Dachkonturen" im 18. Jahrhundert.

8. Heraushebung der Innenstruktur bei Verlust der Gesamtform

In gewisser Weise gegenläufig zur Regel 7 können ornamentale Formen auch dadurch entstehen, daß nicht mehr die Außenstrukturen einer Darstellung, sondern nur noch die zentralen Verlaufslinien beibehalten werden (z.B. Entwicklung des Hakenkreuzes aus den vier Miribotas des Vierpasses).

9. Tendenz zur Lateralsymmetrie

Vermutlich wegen der positiven Reaktion des Menschen auf Lateralsymmetrien tendieren insbesondere ornamentale Formen zur Ausbildung von Lateralsymmetrien (z.B.: links entstandene Schulterklappe hat alsbald ein rechtes Pendant; die seitlich entstandene Hutkokarde rückt in die Mitte).

(vereinfacht; nach einem unveröffentlichten Thesenblatt von Max Liedtke 1998)

 

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